Eine Sprengung wie im Krieg

Das Ehepaar Hoyer wohnt seit 44 Jahren am Conti-Gelände in Limmer – und hat in dieser Zeit Einiges mitgemacht.

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JULI 2016

Das weiße Auto wurde schwarz vom Ruß, Fenster und Türen mussten wegen Gestanks geschlossen bleiben. Das Ehepaar Hoyer wohnt seit 44 Jahren am Conti-Gelände. Als die Fabrik noch in Betrieb war, mussten sie Einiges mitmachen. Aber auch nach der Stillegung gab schwierige Momente.

Trümmer schwirren durch den Garten, dichter Rauch steigt auf, die langgestreckten Fabrikgebäude fallen in Minutenschnelle in sich zusammen – die Szenarien, als die Continental im Jahr 2009 ihre Gebäude auf dem Fabrikgelände in Limmer sprengte, haben sich bei Edith Hoyer ins Gedächtnis gebrannt. „Das war wie im Krieg“, sagt die 79-Jährige heute. Ihre Stimme wird brüchig wenn sie von dem Tag erzählt. „Ich fühlte mich wie bei einem Bombenalarm.“

Zusammen mit ihrer Familie musste sie ihr Haus unmittelbar neben dem Industriegelände verlassen. Hoyer und ihre Familie gingen ans Ufer des Leineabstiegskanals und beobachten, wie alles in sich zusammenfiel – mit dabei: eine Kamera. Detailliert haben die Hoyers jeden Schritt der Sprengung dokumentiert. Auf Fotos ragt der mächtige Conti-Turm wie eine startende Rakete aus der Staubwolke. heraus.

Seit 44 Jahren wohnt das Ehepaar Hoyer im ehemaligen Schleusenwärterhaus direkt am Leineabstiegskanal. Ihr gepflegter Garten grenzt ans Wasser, auf der Vorderseite des Klinkerbaus erstreckt sich die Wasserstadt Limmer. Vor 23 Jahren haben sie das Haus aufwändig renoviert und erweitert, damit die ganze Familie unter einem Dach wohnen kann. Als sie einzogen, war das dicht bebaute Fabrikgelände der Gummiwerke ihr einziger Nachbar – nun leben sie seit 17 Jahren neben einer Industriebrache.

Eine zwei Meter hohe Mauer trennt das Haus vom ehemaligen Werksgelände. Nur vage lässt sich das weitläufige Feld dahinter erspähen. Als in den langgestreckten Fabrikgebäuden noch Gummireifen und Gummibälle vom Band liefen, sollte die Mauer die Anwohner vom Staub und Ruß der Fabrik schützen. Doch ständig waberte der dunkle Ruß in den Garten. „Wenn ich in den Siebzigern mein weißes Auto abends abstellte, war es am nächsten Tag meist ganz schwarz“, erinnert sich Wilhelm Hoyer. Die schmale Straße am Kanal war ein Ort, an den niemand freiwillig zog. Wenn die Continental ihre Filter in den mächtigen Türmen reinigte, blieben im Schleusenwärterhaus Türen und Fenster zu. Noch heute rümpft Edith Hoyer die Nase, wenn sie an den beißenden Gestank denkt.

„Wenn ich mein weißes Auto abends abstellte, war es am nächsten Tag schwarz vom Ruß.“

Dennoch, wirklich gerne tauschen die Rentner den Nachbarn Continental nicht gegen die trockene Industriebrache und eine Zukunft mit vielen Unbekannten ein. Die leerstehenden Ruinen auf dem Gelände erzählen für sie Geschichten aus früheren Zeiten. Statt Maschinenlärm schallt jetzt an warmen Sommerabenden laute Musik von den Fabrikgebäuden herüber, teilweise bis spät in die Nacht. Jugendliche nutzten den Ort gerne, um illegale Partys zu schmeißen. „Das hört man bis ins Kopfkissen“, meint Wilhelm. Und ihr Müll bliebe oft liegen. „Das Eck verlockt, da hat ja keiner was gegen. Aber der Müll ist ein Riesenproblem. Man kann doch erwarten, dass sie den Ort in Schuss halten, wenn sie ihn nutzen wollen“, sagt Edith entrüstet. Hobby-Fotografen, Künstler und Musiker ziehen über das Gelände, das für sie eine romantisch-raue Kulisse darstellt – ein Ort, der noch perfekt für ein Bild auf Instagram, den Graffitischriftzug oder das Musikvideo ist.

Was in zehn Jahren hinter der Mauer aufragt, weiß das Ehepaar noch nicht. Geduldig nehmen Limmeraner die Veränderungen auf dem Gelände hin. Als vor Kurzem Rüttelwalzen über den neu aufgeschütteten Sand fuhren, klirrte das Geschirr in den Küchenschränken. Keiner der Bauschritte bleibt unbemerkt. Das Ehepaar teilt die Sorgen vieler Limmeraner. Vor Edith Hoyers innerem Auge nimmt die Wasserstadt bereits Gestalt an – eine Gestalt, die ihr nicht wirklich gefällt: Sie denkt an enggebaute Betonklötze, die sich auftürmen so wie in den Wohngebieten des Roderbruch oder Mühlenbergs. Wo viele Menschen sind, seien auch viele Probleme. Edith Hoyer schüttelt den Kopf: „So etwas wollen wir hier nicht. Die Natur soll bleiben.

Wilhelm Hoyer hielt die Sprengungen auf dem Gelände im Jahr 2009 mit der Kamera fest. (Fotos:Hoyer)

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