Der Charme der Industriebrache
Die verfallenen Backsteingebäude und rauen Freiflächen der Wasserstadt ziehen viele Künstler und Fotografen an. Wenn hier nicht bald gebaut werden würde, hätte das Gelände auch Potential für jeden Kinofilm, sagt Locationscout Andrea Giesel.3
MÄRZ 2017
Noch ist das Wasserstadtgelände mit seinen graffitibesprühten Industrieruinen einer der letzten "lost places" in Hannover - ein Ort, der mit seinem verfallenen Charme viele Kreative anzieht. Das ganze Jahr über ziehen Fotografen über das Gelände und Musiker drehen ihre Videos. Als Drehort für einen Film würde Locationscout Andrea Giesel das Gelände nicht mehr vorschlagen - das Risiko ist zu groß. Wenn sie allerdings über das Areal zwischen Stichkanal und Leineabstiegskanal läuft, springt ihr Kopfkino an.
Den passenden Ort für eine Leiche hat Andrea Giesel schnell gefunden: In einer düsteren Ecke könnte sie liegen, vor der bröckeligen graffitibesprühten Mauer, das Fenster ist vernagelt, und über den Boden schlängelt sich ein altes Kabel. Wenn die 51-Jährige über das Conti-Gelände in Limmer geht, springt ihr Kopfkino sofort an: „Hier könnte jeder moderne Krimi oder Tatort spielen. Die Ruinen wären perfekt für Verfolgungsjagden und dubiose Drogengeschäfte.“
Giesel ist Locationscout und sucht in ganz Niedersachsen nach Drehorten für Kino- und Fernsehfilme, Werbespots und Fotoshootings. Für die Orte, die sie findet, hat sie sofort ein Szenario vor Augen. „Die Wasserstadt hätte auch Potential für jeden Kinofilm, der futuristisch ist“, sagt sie und skizziert, wie auf den Sandhügeln glitzernde Ufos landen und die Welt glühend untergehen könnte. Perspektiven im Konjunktiv – denn die Zeit der Brache als grenzenlose Arena der Fantasien läuft in diesem Jahr aus. Dann wird gebaut.
Zu jeder Jahreszeit zieht die Brache zwischen Stichkanal und Leineabstiegskanal vor allem viele Kreative an. Für das Ausstellungsprojekt IntraRegionale 2016 verwandelte der Künstler Matthias Lehmann den 51 Meter hohen Turm auf dem ehemalige Produktionsareal in eine begehbare Sonnenuhr. Um ihn herum ließ er im Halbkreis überdimensionale Ziffern aus Beton im sandigen Boden ein. Einen „industrieromantischen Abenteuerspielplatz” nannte Helmut Hennig vom Verein Kunst im Kontakt das Wasserstadtgelände damals. Eine passende Formulierung, denn für das Bild aus dem Inneren der Industrieruinen klettern Fotografen auch über Sandhügel und Steinhaufen – trotz der Warnungen über die Einsturzgefahr.
Unter #limmerconti finden sich auf Instagram zahlreiche Bilder von besprühten Mauern und Sonnenuntergängen zwischen verfallenen Wänden. Andre Weißgerber ist einer der Instagrammer aus Hannover, die immer wieder zum Fotografieren auf das Gelände kommt. Auch viele junge Filmemacher drehen Musikvideos vor der rauen Kulisse - so wie die niedersächsische Band "You Silence I Bird". Selbst an einem stürmischen Februartag kreisen Drohnen über dem matschigen Sand und zwischen den bunten Säulen posieren junge Mädchen vor der Handykamera.
Doch es gibt erste Anzeichen, dass die raue Industrieromantik bald massiv verändert wird. Um den alten Conti-Turm, dem 51 Meter hohen Wahrzeichen des Wasserstadtgeländes, wurde bereits ein Baugerüst hochgezogen. Der Turm soll erhalten bleiben und wird für etwa eine Million Euro saniert. Bis Ende Mai soll er in neuem Glanz erstrahlen. Danach werden die Bagger beginnen, im ersten Bauabschnitt Löcher für die Fundamente der Wohnhäuser zu graben. Der Charme des rauen verlassenen Platzes verliert sich dann zwischen Absperrungen und Baucontainern.
"Hannover braucht Wohnraum. Als Filmkulisse ist die Wasserstadt toll - als Wohngegend aber auch."
„Es ist eine Schande, dass man nicht früher schon versucht hat, auch die alten Fabrikgebäude zu erhalten“, sagt Locationscout Giesel, während sie über Berge aufgetürmter Pflastersteine klettert. Dann hätten die künftigen Bewohner noch mehr von dem alten Industriecharme. Allerdings sind die beiden langgezogenen Trakte stark von krebserregenden Nitrosaminen aus der Gummiproduktion vergiftet. Ob man sie tatsächlich abreißen wird, ist aber noch offen. Noch laufen Versuche zur Nachnutzung der Backsteinimmobilien.
Als Drehort kann Giesel das Gelände mit den einsturzgefährdeten Häusern keinem Filmteam mehr vorschlagen – das Risiko wäre zu groß. Die Möglichkeiten, diesen für Hannover einzigartigen Ort zu inszenieren, wären für die Filmliebhaberin unerschöpflich. Vor ihrem inneren Auge sieht sie von zu Hause abgehauene Jugendliche, die mit ihren Schlafsäcken in den verfallenen Treppenaufgängen kauern und sich am Lagerfeuer wärmen, sie stellt sich düstere Drogendeals vor oder wilde Schießereien in den hallenden Ruinen. Nur für einen Schauplatz in einem Film über den Zweiten Weltkrieg eignet sich die Kulisse nicht. Dafür zieren zu viele bunte Graffitis die verfallenen Gebäude.
„Für große Filmproduktionen ist das hier nichts mehr“, erklärt die 51-Jährige. Denn dafür bräuchte man neben einer Genehmigung auch Strom und Wasser. Musikvideos oder kleine Fotoshootings ließen sich hier allerdings ohne Probleme realisieren. Dass der weite Blick zum Leineabstiegskanal bald von Wohnhäusern verstellt wird, bedauert Giesel nicht. „Hannover braucht Wohnraum. Als Filmkulisse ist die Wasserstadt toll – als Wohngegend aber auch.“
Von Linda Tonn
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